Forschungsprojekte/ researchprojects
aktuelles Projekt
Phänomenologie der Freundlichkeit
Untersuchungen zu einer parasitären Tugend - oder über das Lächeln des
Geistes.
2021 - 2022 geleitet von Dr. Anna Maria Tekampe
Philosophisches Institut,
Universität Heidelberg
Schulgasse 6
“Originalitätsverdacht” - Förderformat der VW- Stiftung
Universität Heidelberg
Schulgasse 6
“Originalitätsverdacht” - Förderformat der VW- Stiftung
Projektbeschreibung (Kurzfassung): „Freundlichkeit“ ist kein pur kognitiv erfassbares Phänomen und auch kein per se messbares Phänomen. Daher ist es mit den Methoden der „instrumentellen Vernunft“ zunächst nicht erklärbar. Freundlichkeit stellt sich ihrem Wesen nach der „Berechenbarkeit“ entgegen. Somit erscheint sie zunächst nicht kompatibel mit der Ordnung, die der Mensch seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Freundlichkeit kann somit, so meine These, als ein parasitäres Phänomen angesehen werden, welches in seiner Qualität jedoch existenzbedingend ist. Eine Welt ohne Freundlichkeit ist eine tote Welt. Freundlichkeit ist geradezu ein Zeuge von „Lebendigkeit“. Im Modus der Freundlichkeit erkennt ein Mensch sein Gegenüber als gleichberechtigt und ebenbürtig an (vgl. Emmanuel Levinas ). Eine umfassende – und vor allem aktuelle, d.h. das 21. Jahrhundert betreffende - Studie zu diesem Thema steht noch aus – erscheint jedoch angesichts der gesellschaftlichen Lage sehr dringlich. Bei der Aufarbeitung des Themas wird insbesondere die Methode der „Neuen Phänomenologie“, bei der neben der kognitiven, logischen Ebene auch die Ebene der Stimmungen und der körperlichen Intelligenz einbezogen wird, angewandt werden.
Phenonemology of kindness/ friendliness. An ontological stuy of a parasitic virtue – or on the smile of the mind
Kindness or friendliness is not a pure cognitive phenomenum – and even more it is not a per se measurable. It can’t be measured with the methods of the so called „instrumental ratio“ and it is not explainable under the presumptions of this method of thinking. Friendliness/ kindness stands against countability or calculability – that is why it seems not compatibel with the order we observe nowadays. That is why friendliness/ kindness can be seen as a parasitic phenomenom in todays society, but has however an existentiale quality for the creation and preservation of societies. The aim of this project is it to prove this thesis.
Furthermore my recent work evolves around the early phenomenological movement and women philosophers in that circle. Here I am especially focused on the works of Edith Stein, Gerda Walther - but also Simone Weil. Furthermore I am interested in the philosophy and phenomenology of emotions and the body.
research interests/ resarch focus: Political Philosophy/ Artistic Research/ Hannah Arendt/ Media Aesthetics/ Media Politics/ Intersubjectivity/ Critical Theory/ Communicology/ Media Ethics/ Philosophy of Mind/ New Phenomenology/ Early Phenomenology
eigene vergangene Projekte (abgeschlossen)
Automaten und Mobiles als kulturelle Artefakte der Entstehungsgeschichte kooperativer Medien 2018 - 2020 // Teilprojekt des SFB 1187 “Medien der Kooperation”
Das Teilprojekt setzt an der Schnittstelle von Medien-, Kunst-, Wissenschafts- und Technikgeschichte an und folgt am Beispiel sich selbst bewegender Spielobjekte einer Geschichte der Automatisierung von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Untersucht werden: erstens, die menschen- und tierähnlichen Automaten des 18. und 19. Jahrhunderts, die medien- und wissenschaftshistorisch bereits als Vorläufer des Computers identifiziert wurden; zweitens, die Entwicklung der Mobiles des amerikanischen Künstlers Alexander Calder (1898-1976) in den 1930er Jahren, die kunsttheoretisch als Kooperation von Dingen und Differenzen beschrieben worden sind und für deren Entwicklung Calders Ausbildung als Ingenieur und Künstler als gleichermaßen entscheidend gilt. Am Beispiel der beiden Korpora sollen zum einen jene sozio-kulturelle Dynamiken rekonstruiert werden, die die Entwicklung automatisierter, und perspektivisch intelligenter, Maschinen sowie die variierenden Stufen ihrer projektierten Mobilisierung und Vernetzung begleitet haben. Zum anderen erlaubt der gewählte Fokus auf Spielobjekte und die Praxis des Spielens eine Theoretisierung kooperativer Praktiken als Formen der Innovation wie Regulierung, des Experimentierens wie Konsolidierens, sowie ihrer Spezifik im Kontext ästhetisch-künstlerischer und ingenieurstechnischer Praktiken
über den SFB “Medien der Kooperation” 1187:
“Im Zentrum der Forschung steht die Erforschung digital vernetzter Medien, die sich auf breiter Front als kooperative Werkzeuge, Plattformen und Infrastrukturen herausgestellt haben. Dieser Entwicklung folgend werden seit Jahren öffentliche Debatten zur „digitalen Partizipation“, zur Karriere der „Sozialen Medien“, zu den normativen und technischen, rechtlichen und politischen Grundlagen einer „digitalen Kultur“, und zur Überschneidung digitaler Produktion, Distribution und Rezeption geführt. Der SFB Medien der Kooperation greift diese Entwicklungen auf und setzt dem Aktualitätsdruck ständigen Veraltens eine wissenschaftliche Perspektive entgegen, die zwischen Geschichte und Gegenwart vermittelt und die kooperativen Praktiken in den Mittelpunkt stellt, die in Medien entstehen und aus denen Medien entstehen.”
Das Gähnen des Weltalls, 2012
Buchprojekt/ Monographie
excerpt “Das Gähnen des Weltalls”
0 Einleitung
“Wenn ich von der Zeit spreche, dann weil sie noch nicht ist.
Wenn ich von einem Ort spreche, dann weil er verschwunden ist.
Wenn ich von der Zeit spreche, dann weil sie nicht mehr ist.”
Jean-Luc Godard
Dans le noir du temps
In der Langeweile steckt etymologisch betrachtet die lange Weile und somit die Beschreibung einer langen Dauer, daher könnte man meinen, die Langweile beschreibe schlicht das Erleben von Dauer. Dass der postmoderne Mensch darin eine unangenehme, gar das Dasein in Frage stellende Stimmung sieht, erscheint auf den ersten Blick unerklärlich. Doch mit der Frage nach der Dauer und damit nach der Zeitlichkeit, scheint sogleich die Frage nach der eigenen Endlichkeit auf. Daher sieht der Mensch heutzutage in der Langeweile ein Leiden am Sein in der Zeit. In Zeiten der Postmoderne kommt dem Menschen die Absurdität des Daseins ungefilterter denn je entgegen. In diesem Sinne sind wir wohl tatsächlich, wie Cioran meint Rasende, die den Schlüssel zur Seelenruhe verloren haben und nur noch zu den Geheimkammern unserer Zerrissenheit Zugang finden. In der Stimmung der Langeweile wird sich das postmoderne Subjekt, wie in keiner anderen Stimmung, der eigenen Endlichkeit und Absurdität des Daseins bewusst. In diesem Sinne kann die Langeweile in dem alltäglichen, sich verausgabenden Jagen nach Glückseligkeit eine Chance sein, die den Menschen für einen Moment auf sich zurückwirft und eine Begegnung mit dem Selbst ermöglicht. Jedoch ist dieser Moment wiederum nicht von langer Dauer, da der moderne Mensch, zum Aktionismus erzogen, sich sofort bemühen wird vor diesem zu fliehen und die ihn innerlich und äußerlich umgebende Leere durch Konsum, Exzess und Verausgabung zu füllen. Oder, wie es der Pessimist Cioran ausdrücken würde: weil wir vom Aberglauben des Handelns angesteckt sind, meinen wir, unsere Ideen müssten ein Ziel erreichen.
Das Phänomen der Langeweile, in seiner Bedeutung eines Leidens am Sein in der Zeit hat sich zu Zeiten der Aufklärung herausgebildet. Seit der Aufklärung ist der Mensch vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen. Es gibt keinen Createur – kein Außen mehr, nichts auf das man sich außerhalb der uns gegeben Immanenz stützen könnte. Da der Himmel seit der Säkularisierung leer ist, leidet der Mensch nach Nietzsches Diagnose unter einem metaphysischen Mangel. Genau darin liegt das Hauptproblem des modernen Subjekts, denn es muss versuchen, dieses Sinnvakuum, welches durch den Tod Gottes entstanden ist, durch sich selbst zu füllen. Daher ist das Individuum auf sich gestellt. Dieses Problem sah bereits Johann Gottlieb Fichte. Fichte, eine wichtige Figur in der Entwicklung der Subjektphilosophie, entwarf in seinen Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters3 eine Kritik an seiner Zeit, die er in einer tiefen Krise der Vernunft sah. Diese Krise beruht seiner Meinung nach auf dem Individualismus der Moderne. Die subjektive Freiheit in der Moderne sei von der allgemeinen Vernunft abgetrennt und der daraus resultierende Individualismus finde seinen Ausdruck nur noch in Hedonismus und Materialismus. Sein Zeitalter sei von einer großen Leere durchdrungen, “die sich als unendliche, nie gründlich zu hebende und immer wiederkehrende Langeweile offenbart”. (4)
Obwohl Fichte mit dieser Diagnose auf seine Zeit und somit auf das 18. Jahrhundert abzielt, könnte man diesen Ausspruch auch auf das heutige Zeitalter anwenden. Die immer wiederkehrende Langeweile hat ihren Kern in der Suche nach einer Antwort in äußeren Vergnügungen, in der Flucht nach vorne, wo der Materialismus den Menschen mit weit geöffneten Armen empfängt. Das heutige abendländische Dasein ist von der Allgegenwart des Möglichen geprägt.
Die Langeweile ist heutzutage in doppelter Hinsicht ein Zeichen der Zeit. Denn einerseits steht sie in direkter Beziehung zum Zeiterleben und ist so a priori ein Zeichen der Zeit, andererseits ist sie offensichtlich eine Stimmung, in der sich unser Zeitalter widerspiegelt. So betont Peter Sloterdijk, dass Martins Heideggers Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 über die Grundbegriffe der Metaphysik vor allem durch die sensationelle Phänomenologie der Langeweile bekannt geworden sei, von der man nicht zuviel sagt, wenn man sie als die profundeste Gegenwartstheorie bezeichnet, die das 20. Jahrhundert hervorzubringen imstande war. Hier nahm, so Sloterdijk, die phänomenologische Revolte gegen die Zumutungen des Aufenthalts im technischen Gehäuse Gestalt an. Heidegger identifiziert in der Langeweile die Grundstimmung, in der man zu den drei metaphysischen Grundfragen nach Welt, Endlichkeit und Vereinzelung (7) kommt. In der Stimmung der Leergelassenheit der Langeweile, steht der Mensch vor der Entscheidung sich weiterhin zu zerstreuen oder sein Dasein ausdrücklich und eigens zu übernehmen.
Ist es noch nötig zu sagen, dass Heideggers große Phänomenologie der Langeweile von 1929/ 30 sich nur als Ausbruch aus dem europaweit etablierten (obgleich durch Kriegsschäden schwer ramponierten) Kristallpalast verstehen lässt dessen moralisches und kognitives Binnenklima- die unvermeidliche Abwesenheit jeder gültigen Überzeugung und die Überflüssigkeit jeder persönlichen Entscheidung- hier klarer erfasst wird als irgendwo sonst?(Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt am Main 2005, S.270.)
Für Heidegger liegt im Augenblick der Langeweile die Ermöglichung des Daseins . Heidegger will dem Menschen den Austritt aus der uneigentlichen und entfremdeten Massenkultur ermöglichen und ihm wieder den Zugang zu seiner eigenen Ungeheuerlichkeit, der Ungeheuerlichkeit seines Seins ermöglichen.
Da es immer sinnvoll ist zu erfahren, wie ein Begriff zu seiner heute geläufigen Bedeutung kam, wird die Langeweile im ersten Kapitel aus einer epistemologischen Perspektive analysiert. Bei dieser Betrachtung der Vorgeschichte wird sich zeigen, dass die Langweile erst zu Zeiten der Aufklärung die uns heute bekannte Bedeutung erlangt. Denn zu jener Zeit setzte die philosophische, von der theologischen Auslegung losgelöste Analyse des Begriffs ein, deren Anfang in Immanuel Kants Ausführungen über die Anthropologie zu finden ist. Die weitere Entwicklung lässt sich parallel zur Entwicklung des modernen Subjekts verfolgen. Das zweite Kapitel zeichnet daher die Entwicklung dieser modernen Langeweile in der abendländischen Philosophiegeschichte nach.
Angefangen bei Kants kopernikanischer Wende und dem damit einhergehenden Abschied vom Diktat der externen Objektivität (10) über Schopenhauers Modell des Willens als Daseinbestimmendes Element, die damit verbundene Ablehnung der christlichen Denkweise und seine Hinwendung zu den Lehren des Buddhismus. Dieses Entwicklung zieht sich weiter zu Kierkegaards existenziellen Sprung (der einen Fortschritt in der Subjektphilosophie bedeutet, aber einen Rückschritt in der Ablösung von christlichen Vorstellungen) über Nietzsches Nihilismus und seiner Idee vom Willen zur Macht bis zu Heideggers Seinsphilosophie. Im Anschluss wird E.M. Cioran absolut pessimistische Auslegung der Langeweile besprochen. Innerhalb dieser Analyse wird sich zeigen, dass die Langeweile in Hinblick auf die Entwicklung des modernen Subjekts eine tragende Rolle spielt. Die erwähnten Denker werden darüber hinaus in den weiteren Kapiteln als Dialogpartner fungieren, wenn es darum geht, die Situation in unserer heutigen Zeit zu analysieren. Das dritte Kapitel fokussiert sich auf die Zeit- und Raumkomponente der Langeweile, denn da unser Dasein endlich ist, ist Leiden am Sein auch immer ein Leiden in der Zeit. Daraus ergibt sich eine Untersuchung und Befragung der heutzutage populären Theorien der Beschleunigung und inwieweit diese mit der Wahrnehmung von Langeweile in Verbindung stehen. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf das postmoderne, gelangweilte Subjekt, das sich in einer Möbiusschleife des Konsums und Überflusses zurechtfinden muss, und sich angesichts einer offensichtlichen Überforderung für sich selbst, sich entweder zu Tode langweilt oder versucht im Exzess aufzugehen. In diesem Kontext wird auch das von Friedrich Nietzsche geprägte Motiv der ewigen Wiederkunft zu Rate gezogen. Die Zusammenhänge zwischen Langeweile und dem pathologischen Bild der Depression folgen im fünften Kapitel. Von der Depression sagt man nicht zuviel, wenn man sie als die prägende Krankheit des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts bezeichnet und ihr damit einen ähnlich wichtigen Status zuspricht, wie ihn um 1900 die Neurose hatte. Unter Hinzunahme der Theorien des französischen Soziologen Alain Ehrenberg und aktueller Studien wird in diesem Kapitel die Langeweile als eine Vorform oder Begleiterscheinung der Depression besprochen. An dieses Thema anschließend, wird im sechsten Kapitel, auf die uns umgebende Freizeitkultur (Ferienreise, Spektakel, Sonntag) eingegangen. Die Langeweile wird in der soziologischen und psychologischen Literatu vornehmlich als ein psychosoziales Problem der Freizeit gesehen. Im siebten Kapitel wird auf die Kunst als einen möglichen Ausweg aus der Langeweile eingegangen. Dabei wird sich zeigen, dass die Kunst eine Überbrückung der Langeweilegefühle in dem Sinne darstellt, als das sich der Mensch als künstlerisches Subjekt auf die gleiche Ebene wie die Natur stellt und sich somit als letzter Telos begreift. Es wird sich jedoch zeigen, dass darin keine dauerhafte Lösung zu finden ist. Denn der Mensch bleibt von seiner Umwelt entfremdet. Im achten Kapitel geht es vornehmlich um den Heideggerschen Begriff der tiefen Langeweile und was dieser ermöglicht. Heidegger kritisiert den Menschen der sich auf vulgäre Art und Weise langweilt weshalb ein wesenhaftes Bedrängnis im Ganzen ausbleibt. In der ersten Form der Langeweile zeigt sich das Langweilende in den langweiligen Dingen und Menschen und dergleichen. Bei der zweiten Form der Langeweile zeigt sich das Langweilende als die stehende Zeit. Es sind nicht mehr die Dinge in der Umgebung, aber auch nicht die eigene Person.
Nur in der tiefen Langeweile, wenn der Mensch mit der Zeitlichkeit des Daseins konfrontiert wird, kann ein wesenhafte Bedrängnis im Ganzen aufkommen. Erst in dieser Stimmung zeigt sich das eigentlich Langweilende, dass sich in den Formen der alltäglichen Langeweile nicht zeigt, denn es sind weder die seienden Dinge als solche – ob einzeln oder im Zusammenhang – noch die seienden Menschen als feststellbare und vorfindliche Personen, weder die Objekte noch die Subjekte, sondern die Zeitlichkeit als solche, die den Menschen langweilt. So ist das eigentlich Langweilende die Zeitlichkeit in einer bestimmten Weise ihrer Zeitigung.
Im Augenblick der Langeweile werden wir uns der Zeitlichkeit unseres Daseins bewusst und in diesem Bewusstwerden steckt auch ein Moment der Freiheit des verantwortlichen Subjekts. In der Langeweile wird einem die Gegenwart in ihrer schmerzlichen Leere gewahr – das Subjekt ist der Zeit ausgeliefert. Der Zeitfluss stockt in der Wahrnehmung. Dieses Stocken ist für Heidegger ein Initiationsimpuls, denn wenn nichts mehr geht, muss man sich selbst auf den Weg machen. Nur aus diesem sich auf den Weg machen ist es möglich das Dasein zu befreien. Diese Befreiung geschieht, wenn man sich zu sich selbst entschließt – in diesem Entschließen wird das Selbst geboren.
Heidegger geht davon aus, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Da-seins wie ein schweigender Nebel hin-und her zieht. Es liegt nun in de Verantwortung des Subjekts, diese Stimmung nicht durch wilden Aktionismus immer wieder zu vertreiben, sondern zuzulassen und sich so dem Augenblick der Verantwortung zu stellen und sich das eigene Dasein selbst zuzumuten. Der Weg dorthin, und wie es heute um die Ermöglichung des Daseins und den diesem vorausgehenden Augenblick steht wird im achten Kapitel diskutiert. Was dies für den postmodernen Menschen des 21. Jahrhunderts bedeutet werden wir dort erfahren. In diesem Sinne werden nochmals sowohl Martin Heidegger und seine Seinsphilosophie, als auch Michel Foucault ebenso wie die östliche Philosophie befragt werden, die mit der Begrifflichkeit der absoluten Gegenwart, vielleicht genau das zu bieten haben, was der postmoderne Mensch angesichts der Umwertung aller Werte und einer ewigen Wiederkehr des Konsums, benötigt. Ob es in diesem Sinne für den postmodernen Menschen einen Ausweg aus der Langeweile gibt und ob dieser Ausweg im Bekenntnis zum Augenblick besteht, werden wir sehen.
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© (all rights reserved) Anna Tekampe
Autorin: Anna Tekampe 2012
Autorin: Anna Tekampe 2012
1 E.M. Cioran, Dasein als Versuchung, Stuttgart 1993, S. 8. 2 Ebenda, S. 18.
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1 Epistemologische Betrachtung der Langeweile
Bevor wir uns weiter mit dem Phänomen der Langeweile beschäftigen, ist es sinnvoll zu erfahren, wie der Begriff zu seiner heute bekannten Bewertung und Verwendung kam. Im Sinne der foucaultschen Epistemologie, die uns auf die Hintergründe eines Begriffs aufmerksam macht und durch die wir die heutige Bedeutung eines Wortes und seiner Bewertung erst erfassen können, wird daher zunächst die Entstehungsgeschichte des Wortes Langeweile nachgezeichnet. Um ein noch vollständigeres Verständnis des Phänomens zu erreichen, sollen dabei auch die begrifflichen Vorläufer der Langeweile untersucht werden.
Das Wort Langeweile ist im Jahre 1537 zum ersten Mal in einem deutschen Wörterbuch verzeichnet worden. Zu jener Zeit changiert die Schreibweise noch deutlich. Bis ins 17. Jahrhundert hinein schreibt man: lange Weil, Langeweile, Langweil, auch unterscheidet sich die Verwendung des Wortes noch leicht von Region zu Region. Zu Zeiten der Aufklärung und damit zu einer Zeit, in der sich das Deutsche endgültig zu einer Literatursprache entwickelt, wird das Wort Langeweile in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch, in der uns heute geläufigen Bedeutung aufgenommen. Zu jener Zeit kommt eine Philosophie auf, die das Subjekt in den Mittelpunkt ihres Denkens stellt.
Gehen wir aber noch einen weiteren Schritt zurück. Im antiken Denken lässt sich noch kein homogener Begriff für die Stimmung ausmachen, die wir heute Langeweile nennen. Obwohl nicht vollständig übereinstimmend, wohl aber als Vor – und Parallelphänomene der Langeweile zu sehen, werden daher im Folgenden die beiden, in der aristotelischen und platonischen Philosophie wichtigen Stimmungen der Melancholie und Muße, ebenso wie das taedium vitae bei den Römern aufgezeigt und in ihrer Bedeutung umrissen.
Sowohl Muße als auch Melancholie waren in der Antike als wichtige Stimmungen des privilegierten Denkens anerkannt. Die Griechen sahen in der Muße einen Zustand des Freiseins. Die Muße trägt im Verständnis des Aristoteles, im Unterschied zu allen andern Tätigkeiten, den Sinn in sich selbst. In der Muße kommt man zu einer Übereinstimmung mit sich selbst, in eine Haltung des empfangenden Vernehmens. So ist die Muße die Zeit und das Tun, worin der Mensch den eigentlichen Sinn und das Glück des Lebens finden kann. Um aber zur Muße zu kommen, muss man von allen Notwendigkeiten der Lebenserhaltung entlastet sein. So ist Aristoteles der Meinung, dass sich mit einem Leben in Muße keine noch so leichte Arbeit verträgt und auch eine Tätigkeit im Dienste der Allgemeinheit der Muße schaden kann.
Dahingehend ist Aristoteles in seiner Auslegung noch konsequenter als Platon, der wohldosierte Tätigkeit im Dienste des Allgemeinwesens nicht für schädlich hält. Für Aristoteles, der das Leben in seiner „Politik“ in ascholia und scholé unterteilt, ist jedoch jede Art ascholia (Nicht- Muße) eine umtriebige Beschäftigung, die ihren Sinn nicht in sich selbst findet und sich daher nicht mit einem Leben in Muße verträgt. In der richtigen Muße geht es für ihn um das sich Einlassen - Können auf energeia (reines Tätigsein), somit hat das in Muße-Denken nur sich selbst als Ziel. Die Muße stellt im Gegensatz zur Erholung keine Kompensationshandlung dar und wird nur um ihrer selbst vollzogen – sie hat ihr Ziel in sich selbst.
Es kann jedoch nicht jeder Mensch in der Polis zur Muße kommen, zwar ist allen drei Lebensweisen, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik unterscheidet (bios apolaustikos (Leben der großen Menge), bios praktikos (Leben des politisch Handelnden), bios theoretikos (Leben in philosophischer Betrachtung)) das Streben nach Glückseligkeit gemeinsam, jedoch unterscheiden sich die beiden Ersteren vom bios theoretikos dadurch, dass sie ihre Vernunft nur für praktische Zwecke einsetzen. Daher ist dem bios praktikos und dem bios apolaustikos nur eine oberflächliche Glückseligkeit möglich. Denn die eigentliche und vollkommene Glückseligkeit liegt in der theoretischen Schau, und zu dieser kann der Mensch nur in der Muße kommen. In der Muße so Aristoteles kommt er zu seiner Selbstverwirklichung und diese ist es, die dem Leben ihren eigentlichen Sinn gibt. Ein Leben hingegen, das immer hin und her pendelt zwischen Anstrengung und Entspannung und sich somit in einem Teufelskreis der sinnleeren Geschäftigkeit bewegt, wäre aus Aristoteles Sicht ein Sklavenleben. Daher besagt auch schon ein griechisches Sprichwort, dass Sklaven keine Muße haben. Dies ist der Fall, weil sie erstens, aufgrund der Verpflichtung zur Arbeit keine Zeit zur Muße haben und zweitens weil ihnen die Bildung dazu fehlt. Daher fordert Aristoteles, dass der Mensch die Erziehung zu einem sinnvollen Leben erfahren muss. In diesem Sinne stellt er fest: Überall und immerzu nach dem handgreiflichen Nutzen zu fragen, passt am allerwenigsten zu einem groß gesinnten und frei denkenden Menschen.
Diesen groß gesinnten und frei denkenden Menschen findet Aristoteles im Melancholiker. In diesem sieht er den genialen Geist, der nach dem Absoluten strebt. Neben der aristotelischen Auslegung, gibt es eine in der Antike auch schon bekannte medizinisch- pathologisch orientierte Sicht, die in der Melancholie ein körperliches Leiden mit geistigen Begleiterscheinungen sieht, das durch einen Überschuss an schwarzer Galle zu Stande kommt. Hippokrates erwähnt sie zum ersten Mal in seiner Schrift Von der Natur des Menschen (28) im Zusammenhang mit existierenden Ansätze zur Erklärung von Krankheiten und allgemeinen der Viersäftelehre menschlichen Körpereigenschaften erstmalig zu systematisieren.
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Aristoteles entreißt die Melancholie der Pathologie denn die aristotelische Melancholie ist keine Krankheit, sondern vielmehr die Natur des Philosophen schlechthin, seine eigentliche Natur, sein ethos. Mit Aristoteles widmet sich der ausgeglichene Melancholiker extensiv der Sorge des Menschen zum Sein. In Senecas Begriff des Taedium vitae , die er in seiner Schrift De tranquillitate animi thematisiert, ist dagegen eine Vorläuferin der modernen Langeweile zu sehen. Hier beschreibt er diese als ein Missfallen und eine generelle Unzufriedenheit mit sich selbst, die mit einer Sehnsucht nach unbestimmter Veränderung einhergeht. Ebenso schreibt er dieser Stimmung das Gefühl des „es nicht mehr aushalten könnens“ zu. Seneca geht davon aus, dass der Ursprung dieses Seelenzustandes nicht in irgendwelchen äußeren Lebensumständen zu suchen ist, sondern dass die Ursache „in uns selbst“ liegt.
Der vom Leben Gelangweilte mag den Entschluss fassen, das Leben zu verlassen. Selbstmord wird den nachantiken Kirchenvätern sicherlich nicht gefallen haben. Daher wundert es nicht, dass bereits in der frühchristlichen Lehre diese Art der Gestimmtheit als eine Todsünde kategorisierte wurde. Während Griechen und Römer einen eher lockeren Umgang mit dem Problem der Melancholia oder Tristia pflegten, sahen die Christen darin eine mögliche Versündigung gegen den heiligen Geist (35).
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In Hinblick auf die Bewertung Langeweile und der Melancholie vollzog sich von der Antike bis zum Mittelalter ein klarer Wandel. So findet man in der mittelalterlich, christlichen Terminologie die Melancholia, gemeinsam mit der gleich zu besprechenden Acedia (oftmals unter den Begriff der Tristia zusammengefasst und als eine Sünde kategorisiert). Auch in Dantes göttlicher Komödie gehören die Melancholiker in die Rotte jener Schlechten, die Gott verloren und ein dumpfes Herz haben.
Hier zeigt sich der Paradigmenwechsel zwischen Antike und Mittelalter sehr deutlich. Die Schwermut wird tiefgreifend uminterpretiert. Während sie in der Antike im Sinne der Bekämpfung der Affekte (Stoiker) zwar vermieden werden sollte, um in Vernunft und Gelassenheit leben zu können, wird ihr in der christlichen Lehre die Dimension einer kapitalen Sünde zugeschrieben. Da die Schwermut den Menschen in die gefährliche Nähe des Zweifels bringt, sehen die christlichen Theologen darin keinen guten Ausgangspunkt für einen unerschütterlichen Glauben. Denn der Zweifel ist bekanntlich der natürliche Feind des Glaubens. Diese gefährliche Stimmung wurde von ihren ersten Interpreten Acedia (37) genannt. Der Stamm des Wortes ist im griechischen aced(e)ia zu finden und bedeutet soviel wie Sorglosigkeit, Gleichgültigkeit, aber auch Erschöpfung, Apathie und Verdruß. Acedia ist aus der verneinenden Vorsilbe „a“ und dem Verb „kedos“, was sich sorgen, sich kümmern bedeutet zusammengesetzt. Etymologisch gesehen steckt im Wort Acedia somit die Verneinung der Selbstsorge. Im griechischen Denken selbst spielte der Begriff allerdings nur eine marginale Rolle. Für Müßiggang und Übersättigung hatte man andere Wörter. So wurde ersteres mit den Begriffen skholé, álys und argós bezeichnet und Übersättigung hieß kóros. In den homerischen Schriften kommt Acedia sowohl adjektivisch, als auch verbal und partizipial vor, dabei jedoch immer in der allgemeinen Bedeutung von „unbesorgt“ oder „sorglos“ – und somit ohne einen moralischen Unterton.
Die Philosophie der Stoa verwendet Acedia, um auf Erschöpfung und Verdruß hinzuweisen. Eine tiefgehende Reflexion und genauere Analyse des Wortes Acedia ist in der gesamten antiken griechischen Literatur jedoch nicht bekannt. (40) Daher kann man davon ausgehen, dass ein nichtchristlicher Gebrauch als terminus technicus ausgeschlossen werden kann.
Der hier angedeutete eher pragmatisch gefärbte Umgang mit Schwermut in vorchristlicher Zeit wird im Mittelalter von moraltheologischer Seite vollkommen umgedeutet. So steht der Acedia eine rasante und zweifelhafte Karriere als Ursprung aller Sünden bevor. Die erste Stufe ist die Aufnahme in den Todsündenkatalog. Der Katechismus zählt damals darunter folgende: Superbia (Hofart, Hochmut) Avaritia (Habsucht/ Geiz), Luxuria (Unkeuschheit/ Wollust), Invidia (Neid), Gula (Völlerei/ Unmäßigkeit), Ira (Zorn) und eben Acedia (Trägheit). Zur damaligen Zeit herrscht noch der Konflikt zwischen Ost - und Westkirche, was jedoch die Acedia angeht, ist man sich einig und so ist diese sowohl im östlichen als auch im westlichen Todsündenkatalog aufgeführt. In der Westkirche, die nur sieben Todsünden kennt, fallen Acedia und Tristia unter wechselndem Oberbegriff zusammen. Allmählich setzt sich jedoch Acedia als die Bezeichnung für die siebte Todsünde durch. In dieser Rolle galt sie lange Zeit als typische Mönchs- und Klosterkrankeit und als solche hat sie Johannes Cassianus (ca. 360- 430), der als Mittler zwischen Ost - und Westkirche fungierte, nichtchristlicher Gebrauch als terminus technicus ausgeschlossen werden kann.
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Weitere wichtige Ausführungen zum Topos der Acedia finden wir bei dem Scholastiker Thomas von Aquin (1225 -1274). Er thematisiert diese in seiner Summa theologiae im Buch über die Liebe. Seine Interpretation knüpft an die Ausführungen Cassians an, jedoch geht es ihm weniger um eine phänomenologische Untersuchung der Acedia als um eine moraltheologische Bewertung und um die Frage, ob sie als ein Laster, eine Sünde oder sogar eine Todsünde zu bewerten ist. Er kommt zu dem Schluss, dass die Acedia eine Todsünde ist, weil sie schöpferische Liebe und produktives Handeln blockiert. So moralisiert Thomas von Aquin die Acedia als eine tristia de bono spiritualis, also als eine Traurigkeit/ Missvergnügen über das Gute der Schöpfung insgesamt. Diese Auffassung spiegelt sich später auch in Dante Alighieris (1265-1321). „Divina commedia“ wieder, in der einer der Höllenkreise, nach der Acedia benannt ist. Thomas’ Auslegung ist jedoch im weiteren theologischen wie außertheologischen Umgang mit der Langeweile nicht populär geworden. Popularität, wenn man in diesem Zusammenhang davon sprechen kann, erreichte erst sehr viel später der strukturanaloge Entwurf Blaise Pascals (1623-1662) zum Ennui.
Zwar verwendet Pascal den zu seiner Zeit populären Begriff des Ennui, jedoch tat er dies in einer Sinnkonnotation, die von ihrem moralischen Potential her betrachtet eher zur Acedia gezählt werden müsste. Sein Begriff der Langeweile steht wie die Acedia im Verdacht eines eitlen und gottlosen Lebens. In La Misère de l’homme sans Dieu kommt Pascal zu der Erkenntnis, dass das menschliche Leben nur eine Wertigkeit besitzt, wenn es einzig auf Gott ausgerichtet ist, da in der menschlichen Seele nur negatives zu finden ist. Pascals Gott offenbart sich der Menschheit als Liebender. In diesem Sinne hält er heidnische Trauer über die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins für unangemessen. Das menschliche Dasein ist nach Pascal in erster Instanz von drei Faktoren Ruhelosigkeit, Langeweile und Unbeständigkeit bestimmt. Von diesen kann man sich weder durch Einkehr in sich selbst, noch durch Zerstreuung schützen. Nur in der Hingabe zu Gott, kann der Mensch sich von diesen lossagen:
“Die Stoiker sagen: Haltet Einkehr in euch selbst, dort werdet ihr eure Ruhe finden. Und das ist nicht wahr. Die anderen sagen: Geht nach außen und sucht das Glück in eurer Zerstreuung. Und das ist nicht wahr: Die Krankheiten kommen. Das Glück ist weder außerhalb von uns noch in uns; es ist in Gott und sowohl außerhalb von uns als auch in uns.”(Blaise Pascal)
In solch einer transzendentalen Heilslehre hat Traurigkeit oder Langeweile nichts zu suchen. Der Mensch schämt sich im Ennui, in dem sich das Dasein in völliger, unerträglicher Stille zeigt, seiner von Gott abgetrennten Menschlichkeit in der er das Nichts, seine Unzulänglichkeit und die Leere, die ihn ohne Gott umgibt spürt.
Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, sich einzusetzen. Dann wird er sein Nichts fühlen, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Pascal leitet die Langeweile in seinen Pensées aus dem Widerspruch von Ruhe und Rastlosigkeit ab: Unrast treibt zur Ruhe, Ruhe aber wird durch Langeweile unerträglich, so dass wiederum Rastlosigkeit entsteht. Darin sieht er einen ewigen Kreislauf, der nur durch das Bekenntnis zu Gott durchbrochen werden kann. Dahingehend ist Pascals Begriff des Ennui noch stark vom Verständnis der Acedia geprägt, die, wie wir gesehen haben, im mittelalterlichen Denken sehr eng an die Gottesvorstellung und den Sündenkatalog geknüpft war. Diese moraltheologische Bedeutung der Acedia ist auch der Hauptgrund, warum diese zu Zeiten der Aufklärung, durch den Begriff des Ennui in Frankreich, der Langeweile in Deutschland und des Spleen in England, verdrängt wird. Im 17. Jahrhundert bürgert sich der Begriff Langeweile in deutschen Landen ein. Zu jener Zeit verschwindet die Bedeutung der Acedia langsam aus dem gesellschaftlichen und religiösen Kontext und damit auch der Begriff aus den gängigen Lexika. Der Begriff des Ennui leitet sich aus von dem lateinischen in odio esse ab, mit dieser begrifflichen Veränderung geht schließlich auch eine Verschiebung der Bedeutung einher: so verabschiedet sich mit der Acedia auch der unerschütterliche Glaube an eine transzendente Instanz und das Leiden am Sein konzentriert sich von nun an auf das Subjekt und dessen Immanenz. Dagegen steigert sich der Topos des Ennui, der im 18. Jahrhundert populär zu werden beginnt, im 19. Jahrhundert angesichts einer immer unsicherer werdenden Umwelt, zu seiner Bedeutung als Mal du Siècle. Diese Krankheit des Jahrhunderts, bringt der französische Romantiker und Dandy Alfred de Musset (1810-1847) mit der Niederlage von Kaiser Napoleon I., der vermeintlichen Vaterfigur der französischen Nation, zusammen. Ausgelöst durch den Machtverlust Napoleons ist die Stimmung in der Bevölkerung durch Melancholie, Verdrossenheit, Unsicherheit und Mutlosigkeit geprägt:
Es war, als versage man jeglichem Ding auf Erden und im Himmel den Glauben, man konnte von einer Entzauberung oder, wenn man will von einer völligen Verzweiflung sprechen. Die Menschheit war gleichsam in Lethargie versunken und von denen, die ihr den Puls befühlten, für tot gehalten worden. Ebenso wie jener Soldat auf die Frage: “Woran glaubst du?” zur Antwort gab: „An mich“, so beantwortete Frankreichs Jugend die nämliche Frage mit: „An nichts!“57
Die Werte auf die man sich bisher berufen konnte, werden, wie man eindrücklich sieht, in Frage gestellt und eine Stimmung der Unsicherheit breitet sich aus. Angesichts dieser unsicheren, unüberschaubaren Umwelt, flüchtet man sich in eine gesteigerte Sensibilität, in einen Subjektivismus, der das „Ich“ in den Mittelpunkt rückt. Diese Flucht in eine romantische Innerlichkeit lässt sich vor allen Dingen bei jungen Menschen beobachten. So beschreibt der romantische Antiaufklärer François-René de Chateaubriands (1768- 1848) in seinem Roman René, einen junger Mann, der an einer moralisch, schwermütigen, scheinbar unheilbaren Erkrankung leidet. Für die damalige Zeit verkörpert der Protagonist René das romantische Ennui, den Zustand des Mal du Siècle, wie kein Anderer.
Im Zusammenhang der von Alfred de Musset gestellten Diagnose eines Mal du siècle ist der Dandy eine symbolisch aufgeladene Figur, die eng mit dem Phänomen des Ennui verbunden ist. Charles Baudelaire, hat die Figur des Dandys in seinem Leben verkörpert und in seinen Werken meisterhaft beschrieben. Der Dandy lebt ein Leben in Muße, seine innere Einstellung, in der sich Spiritualismus und Stoizismus vereinen, ist dabei ebenso wichtig, wie die Kleidung, die Bewegung und die Sprache. Durch seinen exzentrischen Habitus setzt sich der Dandy von der breiten Masse ab, betont die aristokratische Überlegenheit seines Geistes, und kultiviert die Idee des Schönen in seiner Person. Oscar Wildes Dorian Gray ist in diesem Sinne der Prototyp des Dandys. Dorian Grays übersteigerter Sinn für seine eigene Schönheit, sein Narzissmus, der nur in seinem Sterben vor dem Spiegel enden kann, ist typisch für die Figur des Dandys. Dorian Gray kennt keine moralischen und emotionalen Bindungen an Dinge oder Menschen, er empfindet keine Verantwortung oder Verpflichtung ihnen gegenüber. Sein Heißhunger nach Neuem, nach Divertissement und die damit verbundene Flucht vor der Langeweile sind seine prägensten Charaktereigenschaften.
Es ließe sich eine ganze Reihe weiterer Beispiele aus der französischen, deutschen, englischen und auch russischen Literatur zusammentragen, die sich mit dem Thema der Langeweile bzw. des Ennui beschäftigen. Eine Analyse dieser Werke würde hier jedoch den Rahmen sprengen, daher seien in dieser Reihe nur folgende Werke genannt: Madame Bovary von Gustave Flaubert (differenziert zwischen ennui commun und ennui modern) Hölderlins Hyperion, Byrons Manfred und Don Juan.
Ebenso stellt Iwan Gontscharows Oblomow ein anschauliches Beispiel aus der Reihe der gelangweilten, lebensmüden Figuren dar. Dieser Zustand hat seine Wurzeln in den romantischen Denkweisen und der Literatur des 18. Jahrhunderts. Die empfindsamen Romantiker erkoren weniger die Genussucht als vielmehr die Erlebnissucht zu ihrem Lebensziel. In jener Erlebsnislüsternheit sollten die Empfindungen verfeinert und übersteigert werden. Das Versinken in einen tiefempfundenen Weltschmerz erhöhte die Person und sollte diese bereichern. Die Abenteuerlust des Romantikers ist eine Reaktion auf die Monotonie der bürgerlichen Welt und die immer mehr um sich greifende Industrialisierung und damit einhergehenden Entfremdung von der Natur. Das romantische Subjekt erkennt keine Sinngebung außerhalb des Selbst an. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Romantik die Kinderstube der modernen Langeweile ist.
Wie man sieht, gewinnt die Langeweile erst mit der Aufklärung ihre Bedeutung als ein “Leiden am Sein in der Zeit”. Wie oben erläutert, gewinnt der Begriff sein tatsächliche Popularität zunächst in Frankreich, wo der Begriff des Ennui, zu einem provokant romantischen Gegenstück zur aufkommenden Industriegesellschaft wird. Anstatt sich seiner Acedia oder dem pascalschen Ennui zu schämen, empfindet man nun eine gewisse Genugtuung, ein “bonheur d'être triste” an seiner Traurigkeit und Vereinzelung.
20 Ernst Sigot (Hrsg.) Otium- Negotium: Beiträge des Interdisziplinären Symposions der Sodalitas zum Thema Zeit, Carnuntum, 28. - 30.8.1998, Wien 2000. Darin: Klaus Bartels. Muße und Unmuße: Aristotelische Lebenskoordinaten, S. 29.
21 Hans-Dieter Bahr, Zeit der Muße - Zeit der Musen, Tübingen 2008, S. 30. Zitiert nach Aristoteles, Nikomachische Ethik VII 1- 1337a.
Dahingehend ist Aristoteles in seiner Auslegung der Muße noch konsequenter als Platon, der wohldosierte Tätigkeit im Dienste des Allgemeinwesens für nicht schädlich hält. Platon sieht in der Muße die Voraussetzung der Weisheit. Er versteht Muße nicht einfach als freie Zeit, sondern für ihn ist Muße das „richtige“ Leben.
22 bedarfsorientierte Herstellung von Gütern, ebenso wie Arbeiten und Handeln und Vergnügen und Spiel
23 Otium- Negotium: Beiträge des Interdisziplinären Symposions der Sodalitas zum Thema Zeit, Carnuntum, 28. - 30.8.1998 / hrsg. von Ernst Sigot, Wien 2000. Darin: Klaus Bartels. Muße und Unmuße: Aristotelische Lebenskoordinaten, S. 31.
24 Vgl. Hans- Dieter Bahr, Zeit der Muße - Zeit der Musen, Tübingen, 2008, S. 32. Zitiert nach Aristoteles Nikomachische Ethik 1095 a.
25 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik, Hamburg 1995. 1095b.
26 Vgl. Aristoteles, Politik Politik, Hamburg 1995. 1334a 20f.
27 Vgl. Ebenda, 1338b 2 ff.
28 Von der Natur des Menschen, Corpus Hippokraticum, um 400 v. Chr.
29 Die anderen drei Typen der Viersäftelehre sind: Blut (sanguis) Schleim ( phlegma), gelbe Galle (cholera)
30 Vgl. dazu: Roland Lambrecht, Melancholie, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 28.
Schluss (exzerpt)
Bevor ich wusste, dass ich selbst der
Weg bin, wurde ich von der Zeit benutzt.
Als ich aber verstand, dass der Weg
nichts anderes als mein eigenes Selbst ist,
wurde ich nicht mehr von der Zeit benutzt.
Nun lebe ich, indem ich die Zeit gebrauche.
Meister Joshu230
Die Langeweile ist der Traumvogel,
der das Ei der Erfahrung ausbrütet.
Walter Benjamin
Die postmoderne Langeweile ist die Stimmung eines Subjekts, das in einer transzendenten Obdachlosigkeit lebt, aus der es kein Entrinnen gibt. Angesichts dieses metaphysischen Mangels, muss der Mensch sich selbst als letzte Instanz einsetzten. Jedoch scheint der postmoderne Mensch mit dieser Rolle nicht zurechtzukommen und angesichts der ihn umgebenden unbegrenzten Möglichkeiten immer orientierungsloser zu werden. Die herbeigesehnte Freiheit wird in der kapitalistisch orientierten Gesellschaft zu einem selbstvergessenen Kampf, in dem sich der Mensch zusehends von der Natur, dem Anderen und sich selbst entfernt. Der postmoderne Mensch wird von der übersteigerten Individualisierung und Massenkultur immer mehr bedrängt. Er hat die Wahl, ob er weiter mitrudert oder sich in Apathie aus dem Geschehen zurückzieht.
Entscheidet er sich für die erste Möglichkeit, so wird dies kaum auffallen, entscheidet er sich jedoch für die Form des Rückzugs, so wird es nicht lange dauern bis er sich bei einem Therapeuten wiederfindet, der ihn fit für die Rückkehr macht. Der kurze Moment der Langeweile den er in seinem Aussteigen empfunden hat, wird schnell wieder vertrieben werden. Ja mehr noch, er wird froh darüber sein, denn wie wir gesehen haben, sieht der postmoderne Mensch in der Langeweile ein psychosoziales Problem. Martin Heidegger schrieb der Langeweile, wie wir gehört haben, in seiner Vorlesung über die Grundbegriffe der Metaphysik eine ganz besondere Rolle zu. Denn in der tiefen Langeweile sieht der Mensch erst sein Selbst in aller Nacktheit. Alles Seiende um ihn herum und auch er selbst wird sich gleichgültig. Doch in jenem Augenblick steht er nun vor der Entscheidung, sein Dasein eigens zu übernehmen. In diesem Augenblick der Leergelassenheit, ist es dem Mensch möglich, sich wieder für sein Dasein zu entschließen. Weder ein Programm, noch die Kunst, noch ein anderer Mensch können diesen Augenblick ersetzen. Es liegt in der eigensten Verantwortung des Subjekts, sich für sein Dasein zu entscheiden. Die Langeweile taucht vornehmlich seit der Aufklärung und dem damit einhergehenden Abschied von der externen Objektivität in der Stimmungswelt des Menschen auf. Die von Heidegger als vulgär kategorisierte Langweile, wie er sie ihn den ersten beiden Formen beschreibt, findet man in der postmodernen Welt allerorts. Die tiefe Langeweile jedoch, die ein Hinterfragen der bisher vorherrschenden Werte in sich birgt und daher mit Kierkegaards existenziellem Sprung zu vergleichen ist, ist kein willkommener Gast in der Stimmungswelt des postmodernen Menschen. Im Gegenteil wird sie dem pathologischen Bild der Depression zugeordnet und so als eine Vorform oder Begleiterscheinung dieser Modekrankheit gesehen. Man ist mittlerweile soweit, dass man diese immer häufiger auftretende Form der Verstimmung mit entsprechenden Medikamenten behandeln kann. Zu dem Ausbleiben einer wesenhaftes Bedrängnis im Ganzen (231) durch zeitantreibende und zerstreuende Aktivitäten kommt nun im 21. Jahrhundert noch das programmatische Vertreiben von unangenehmen Stimmungen hinzu. So wird der Moment, in dem ein wesenhaftes Bedrängnis im Ganzen den Menschen erschüttern kann, und er sich im Augenblick zu seinem Dasein entschließen könnte, immer unwahrscheinlicher. Wenn der Mensch über seine Stimmungen chemisch die Kontrolle gewinnt, kann aus diesen auch keine tiefe Langeweile mehr erwachsen. Abgesehen davon wäre die Stimmung im strengen Sinne dann keine wahre Stimmung mehr. Doch nur in der tiefen Langeweile, in diesem ermöglichenden Augenblick, ist es nach Heidegger möglich aus der Seinsvergessenheit herauszutreten und dem Ungeheuerlichen zu begegnen. Das Ungeheuerliche ist das Seiende selbst. In der viel zitierten Grundfrage der Metaphysik, die Heidegger für seine Zwecke umformulierte, ist der Kern für die Erkenntnis des Ungeheuerlichen zu finden.
(...)
© (all rights reserved) Anna Tekampe
Autorin: Anna Tekampe 2012
Autorin: Anna Tekampe 2012
Vita interactiva, 2021/22
Buchprojekt/ Monographie
publication coming soon
(...) Die, ab dem Jahr 1989 noch rasanter werdende Dynamik der „Weltvereinheitlichung“ gibt den fruchtbaren Boden für eine bereits seit dem 17. Jahrhundert sich vollziehende, geisteshistorische Entwicklung. Spätestens ab 1989/90 beginnen sich Produktionsverhältnisse zu Kommunikationsverhältnissen zu wandeln. Mit der „Kybernetisierung der Gesellschaft“ wird der Mensch zu einem errechenbaren Faktor unter vielen und gesellschaftliche Probleme werden so vielfach zu Problemen in Schaltkreisen, von denen man meint, dass man sie nur mit der richtig angewandten Rechenoperation lösen könne. Mit der wirtschaftlichen Eroberung des Internets und der weltweiten Verbreitung der sogenannten smartphones und der damit zugleich einhergehenden Steigerung und Ermöglichung weiterer Quantifizierungsprozesse, setzt so der Prozess ein, der Information zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor werden lässt. Der Soziologe Daniel Bell (1) hatte bereits Anfang der 1970er eine Theorie vorgelegt, in der er den strukturellen Wandel von der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts zu einer Wissens- bzw. Dienstleistungsgesellschaft beschreibt und diagnostiziert und feststellt, dass sich die Gesellschaft zu einer Informationsgesellschaft wandeln wird. Bell sieht diesen Strukturwandel, ähnlich wie Hegel die Verwirklichung des Weltgeistes, als eine konsequente Fortsetzung und Steigerung der Moderne. (...)
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Jede Geschichte hat einen Anfang,
eine Mitte und ein Ende,
aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Jean-Luc Godard
Ich trete vor einem zurück,
der noch nicht da ist und
beuge mich ein Jahrtausend
ihm voraus - vor seinem Geiste.
Heinrich von Kleist
eine Mitte und ein Ende,
aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Jean-Luc Godard
Ich trete vor einem zurück,
der noch nicht da ist und
beuge mich ein Jahrtausend
ihm voraus - vor seinem Geiste.
Heinrich von Kleist
I. Krise des Handelns
Die Krise der Demokratie äußert sich zudem in den Schwierigkeiten, die man offenbar mit der Formulierung von Zielen und Werten hat, an denen sich dieser Prozess orientieren könnte – und damit einher gehen bisher ungeklärte anthropologische Fragen. Denn auf was man sich in diesem gemeinschaftlichen Prozess eigentlich zubewegen möchte, ist bis dato nicht klar – und es wird auch nicht klarer werden, solange man sich z.B. nicht darüber einig wird, wer oder was der Mensch eigentlich sei. Diese Ziellosigkeit ist eine weitere Ursache für die vielfach als unlösbar inszenierte Frage nach der sogenannten „Politikverdrossenheit“. Dass Fragen wie die nach der „Politikverdrossenheit“ und der im Zuge dessen ebenfalls oft gestellten Frage nach der sogenannten „Digitalisierung“, mit Hilfe der vorherrschenden Denkverhältnisse und Ideologien nicht gelöst werden können, liegt auf der Hand. Denn diese Fragen können nicht aus einem System heraus beantwortet werden, das diese Probleme erst erschaffen hat. Denn Fragen können selten aus Problemkonstellationen heraus beantwortet werden, aus denen sie erwachsen sind. Simone Weil hat eine ähnliche Krisensituation zu ihrer Zeit erkannt und stellt treffend fest:
„Wollte man menschliche Geschöpfe – andere oder sich sich selbst – zum Guten hinführen, indem man ihnen nur die Richtung anzeigt, ohne vorher darauf bedacht gewesen zu sein, ihnen auch die entsprechenden Beweggründe und inneren Antriebe zu sichern, so gliche man einem Fahrer, der ein Auto mit leeren Benzintank durch einen bloßen Druck auf den Gaßhebel in Bewegung setzen wollte.“ (36)
Vor diesem Problem stehen wir heute offenkundig, mit der zusätzliche Erschwernis, dass die „Kategorie des Guten“ keine Rolle mehr im Vokabular der Gegenwart zu spielen scheint und so noch nicht einmal der erste Schritt – „das Anzeigen einer Richtung“ möglich wäre. Von
„entsprechenden Beweggründen“ oder gar „inneren Antrieben“ gar nicht zu sprechen. Albert Schweitzer brachte die Situation folgendermaßen auf den Punkt: „Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war“. Oder wie es der Soziologe Daniel Bell beschrieb „Unhappy is a society that has run out of words to describe what is going on“.
(...)
Erkennen der Wahrheit und rechtes Handeln
Foucault hat in seinem, noch immer zu wenig rezipierten [1], Spätwerk - namentlich in seinen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“, unmissverständlich herausgestellt, dass das Ungleichgewicht von der Überbewertung des Geistes – als etwas Wichtiges für den Erkenntnisprozess (vgl. abendländische Geistesgeschichte ab Plato) einerseits und dem Leib – als etwas für den Erkenntnisprozess Unwichtiges andererseits – in der Uminterpretation bzw. fehlerhaften Weitergabe der Begriffe des Gnothi seautu und Epimeleia heautu wurzelt. Im modernen Abendland ist durch diese Entwicklung an die Stelle des Subjekts rechten Handelns aus der Antike, das Subjekt wahrer Erkenntnis getreten ist.[2] Die Philosophie, so Foucault, habe seit Descartes eine Figur des Subjekts entwickelt, das einfach so, wie es ist, wahrheitsfähig ist. D.h. das Subjekt ist nach dieser Auffassung a priori zur Wahrheit fähig und nur „akzessorisch (d.h. nebensächlich) ein ethisches Subjekt rechten Handelns“. Nach diesem Konzept kann man unmoralisch sein (und handeln) und dennoch die Wahrheit erkennen.[3]
Foucault stellt damit fest, dass für das moderne Subjekt der „Zugang zur Wahrheit“ nicht mehr das Ergebnis einer inneren Arbeit ethischer Art (Askese, Läuterung, usw.) ist, sondern dass dieser Zugang mit dem descart’schen cogito geradezu vorrausetzungsfrei wird. Dies ist natürlich eine ungeheuerliche Erkenntnis, die einige der oben referierten Problemkonstellationen mit einem Schlage löst. In seinem Spätwerk nahm Michel Foucault eine Refokusierung auf das Subjekt vor. Er entfernt sich von der Analyse der Diskurse und erforscht in einer historisch epistemologischen Analyse die „Technologien des Selbst“.[4] Dies sind Praktiken oder Handlungsstrategien, mit denen sich das Subjekt selbst konstituiert. In diesen Studien deckt Foucault eine klaffende Lücke im Denken des Westens auf. Denn wenn Foucault die Geschichte der „epimeleia heautou“ mit der Geschichte des „gnothie seaton“ gegenschneidet und dabei herausfindet, dass ursprünglich der erst genannten ein höherer Stellenwert im Denken der Antike zugesprochen wurde, so stellt er mit dieser Setzung sogleich die abendländische Obsession des „denkenden und erkennenden“ Menschen in Frage. Foucault stellt in seiner historisch-epistemologischen Analyse fest, dass lediglich die Vorzeichen des „Erkenne Dich selbst“ es bis in unsere Zeit geschafft haben. Obwohl, so erläutert Foucault, selbst dieses „Erkennen“ in seinem Ursprungsimpuls – nämlich, in dem es auf die Selbstreflexion hinweist, der sich der Fragende unterziehen soll, bevor er vor das Delphische Orakel tritt - mit den Aspekten der Selbstsorge zu tun hat.
Wenn wir diese Linie folgen, ist unumwunden festzustellen, dass es ein „Erkennen der Wahrheit“ etwa in dem Sinne, wie es heutzutage KI-Forscher anstreben über beispielsweise das Nachbilden von Gehirnen oder auch das Nachbauen von lebendigen Organismen mit Armen und Beinen etc. für diesen Forschungszweig nicht bzw. niemals geben kann.
Denn, wenn wir feststellen, dass „Geistigkeit“ die erste Voraussetzung für das philosophische Erkennen von Wahrheit ist bzw. überhaupt das Erkennen von Wahrheit – und diese „Geistigkeit“, so wie Foucault es herausstellt, erst über den Weg von verschiedenen Praktiken und Übungen erreicht werden kann, so müssen wir feststellen, dass dieses Übungsareal tatsächlich ein genuin „menschliches“ im Sinne des Anthropos ist, welches nicht von anderen „Intelligenzen“ eingenommen werden kann. Foucault rückt mit dieser Setzung sehr klar die unverkennbare Existenz des Leibes als ein Wahrheitsmedium in den Vordergrund. Darüber hinaus stellt er fest, dass sich von der Antike in die Moderne eine Umkehrung des Subordinationsverhältnisses zwischen Selbstsorge und Selbsterkenntnis ereignet hat. Denn an die Stelle sich wandelnder Formen rechten Handelns tritt, nach Foucault der kalte Blick der Theorie. Und damit trifft er auf ein vergegenständlichtes, auf seine nackte „Wahrheit“ reduziertes „Erkenntnissubjekt“. Mit dieser Schrift hat Foucault nicht nur den Weg in eine Richtung aufgemacht, die einen neuen Blick auf den Zusammenhang von Leiblichkeit und Erkenntnis eröffnet, er versucht darüber hinaus auch die erkenntnistheoretische Geschichte neu zu erzählen, indem er aufzeigt, wann der Mensch als erkennendes Subjekt selbst zum „Gegenstand der Erkenntnis“ wurde – wann also die Menschheit ihr anthropologisches Studium aufnahm. Darüber hinaus hinterfragt Foucault auch die veraltete und fragwürdige Differenz von vita activa und vita contemplativa – bzw. (Otium Nec-otium). Denn den Studien Foucaults zu Folge muss man diese beiden Dimensionen des Seins immer zusammendenken. Für uns ergibt sich daraus der Begriff der „Vita interactiva“, insofern als mit dem Begriff des „inter“ dem Zwischen all die Dimensionen angesprochen und beschrieben werden sollen, die sich zwischen Subjekt und Welt – oder Subjekt und Subjekt, im Sinne einer intersubjektiven Existenz und dritten Seinskategorie vollziehen. Unter diese Dimensionen fällt die Verständigung, genauso wie Atmosphären oder die Gefühle. Ebenso sind damit mediale Konstellationen gemeint.
(...)
[1] Mit Ausnahmen von etwa: Peter Sloterdijk, Du musst Dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009.
[2] Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung am Collège de France, Frankfurt am Main 2004, Darin: Frédéric Gros, Situierung der Vorlesungen, S. 638
[3] Michel Foucault, Nr. 326., „À propos de la généalogie de l’éthique“, S. 1230, Zitiert nach: Frédéric Gros, Situierung der Vorlesungen, S. 636.
[4] Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung am Collège de France, Frankfurt am Main 2004.
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Autorin: Anna Tekampe 2020